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12.11.2015 – Die Multis müssen ihre Beute nachhaltig verteilen


 
 
Die Grossunternehmen verteilen ihre Löhne und Dividenden so einseitig, dass Sozialstaat und Kapitalmärkte gezwungen sind, ständig Kaufkraft an die Verlierer zurück zu pumpen. Das geht auf Dauer nicht.
 
Durchforscht man die ökonomische Literatur nach den Gründen für die zunehmenden Ungleichheit, stösst man immer wieder auf dieselben Stichworte: Globalisierung, technologischer Wandel,  mangelnde Qualifikation. Keine dieser Thesen überzeugt und keine legt konkrete politische Massnahmen nahe. Das ändert sich, wenn sich fragt, wo entsteht die zunehmende Ungleichheit?
 
Die Antwort ist klar: Es sind die Multis. Sie verteilen ihren Mehrwert viel einseitiger als die KMUs oder Staatsbetriebe. Damit sterilisieren sie die Kaufkraft, auf die die Wirtschaft angewiesen ist. Und sie vertrauen darauf, dass der Staat und die Zentralbanken diese Kaufkraft „künstlich“ neu schafft. Doch beide sind damit immer mehr überfordert.
 
Leider gibt kaum Erhebungen über die Verteilung von Löhnen und Gewinnen bei den Grossunternehmen.  Die Multis halten diese Daten unter Verschluss. Aber ihre Chefs heuern Spezialisten an, um ihre Bezüge mit denen der Konkurrenz vergleichen zu lassen und zwar möglichst so, dass ein Nachholbedarf ersichtlich wird. So zeigt etwa der Vergütungsbericht der Beratungsfirma Price Waterhouse Coopers (PWC), dass die Gesamtvergütungen der CEOs der 50 grössten Schweizer Unternehmen im Jahr 2014 um 15,8% auf  durchschnittlich 5,6 Millionen Franken angestiegen sind. In kleinen und mittelgrossen Unternehmen ist so etwa nicht möglich. Dort stieg der Durchschnittslohn 2014 um 0,8 Prozent auf 77'600 Franken. Im etwa 12köpfigen Beratungsunternehmen meines Freundes lag der höchste Lohn (auf Vollzeitbasis) bisher nie um mehr als 40 Prozent über dem tiefsten. Und die Unterschiede liegen vorwiegend an der Berufserfahrung, gleichen sich also über die ganze Karriere weitgehend aus.
 
Auch in den Staatsbetrieben ist die Lohnspreizung relativ gering. Gemäss der Lohnstrukturerhebung kassierte das oberste Fünftel ziemlich genau doppelt soviel Monatslohn wie das unterste. Derselben Quelle kann man entnehmen, dass die entsprechende Spreizung bei den Privatunternehmen 2008 beim Faktor 2,7 lag und eine steigende Tendenz aufweist. Allerdings wirft diese Statistik KMU, Mittel- und Grossunternehmen alle in einen Topf. Wenn wir annehmen, dass bei ersteren die  Spreizung eher unter 2 liegt, muss sie bei den Grossen deutlich über 4 liegen.
 
Da diese Zahlen geheim sind, müssen wir uns mit Schätzungen begnügen. Versuchen wir es mit dem Nahrungsmittel-Multi Nestlé, der seine Beute eigentlich gemäss dem Kalorienbedarf verteilen müsste: Etwas mehr für das Fussvolk, etwas weniger für den Jetset. Doch schon ein erster Blick auf das Jahresergebnis 2014 zeigt, dass dem nicht so ist. Neben16 Milliarden Personalausgaben weist das Unternehmen nämlich auch 15 Milliarden Gewinn aus. Dank dem Global Wealth Databook der CS wissen wir aber, dass 31 Prozent aller Vermögen (und deren Erträge) auf das reichste Prozent und 84 Prozent auf das reichste Fünftel entfallen. Trifft dies- wie zu erwarten – auch für Nestlé zu,  krallt sich das oberste Fünftel der Stakeholder schon rund mal 40 Prozent der Gesamtbeute, bevor auch nur ein Lohnfranken verteilt worden ist.
 
Die rund 16 Milliarden Franken Bruttolohnsumme verteilen sich auf 339'000 Angestellte. Macht im Schnitt 47'200 Franken brutto. Die 14 Mitglieder der Konzernleitung und die 12 des Verwaltungsrates haben 2014 zusammen knapp 60 Millionen kassiert. Das sind 3,75 Promille der Lohnsumme für 0.08 Promille der Angestellten. Mehr wissen wir nicht. Wir können aber annehmen, dass wie in der Schweiz insgesamt auch bei
Nestlé 9% der Arbeitseinkommen an das reichste Prozent gehen. Zweitens nehmen wir an, dass die restlichen Lohneinkommen so verteilt werden wie im Schnitt aller Schweizer Privatunternehmen. Damit ergibt sich in etwa folgende Verteilung des gesamten Mehrwerts (Löhne und Dividenden): 20 Prozent für das oberste Prozent, 60 Prozent für das reichste Fünftel und für das unterste bleiben noch etwa 6 Prozent.
 
Klingt unwahrscheinlich? Nein, das deckt sich in etwa mit den gesamtwirtschaftlichen Einkommensverhältnissen. Selbst in der relativ egalitären Schweiz entfallen gemäss der neuesten Erhebung der eidgenössischen Steuerverwaltung 49,5 aller Reineinkommen auf das reichste Fünftel der Haushalte, während für das ärmste nur gerade 2,3 Prozent übrig bleiben. In den USA und Deutschland sind die Verhältnisse noch extremer. Die gesamtwirtschaftliche Verteilung ist deshalb noch schiefer als unsere Schätzung für Nestlé, weil hier auch noch die Pensionierten, die Arbeitslosen und die schlecht bezahlten Leiharbeiter der Multis enthalten sind.
 
Damit haben wir den Haupttäter gefasst. Doch ist die Ungleichheit wirklich ein Problem? In der öffentlichen Diskussion wird meist bloss der moralische Aspekt behandelt. Gerecht oder ungerecht?
In der Schweiz kommt oft der Hinweis, dass auch die Einkommen der Armen real immer noch steigen. Stimmt. Aber selbst die relativ faire Einkommensverteilung der Schweiz kann volkswirtschaftlich schädlich sein, wenn sie zu stark von der Verteilung des Konsums abweicht.
 
Nehmen wir als Gedankenexperiment an, Nestlé habe alle übrigen Firmen übernommen und stelle – als Nestlé-Total oder kurz NT alles her, was wir brauchen inkl. Strassen, Schulen, Spitälern. Wir würden dann mit Löhnen, Zinsen und Dividenden von NT ausschliesslich Produkte von NT kaufen. Wenn nun die NT-Betriebe (also alle Unternehmen des  Landes) ihren Mehrwert so verteilen, wie oben geschätzt (60% für das reichste, 6% für das ärmste Fünftel), dann bräche der Konsum total zusammen und der Produktionschef von Nestlé müsste seine Produktepalette konsequent auf Luxus einstellen.
 
 
In der Tat geschieht das. Die Nahrungsmittelindustrie füttert die Unterschicht zunehmend mit Billigkalorien aus Fruktosesirup, raffinierten Getreideprodukten,  gehärteten pflanzlichen Fetten und Hormonfleisch ab und lanciert für die Oberschicht etwa die Luxus-Linie „Chocolat Signature Sélection“ von Nestlé. 130 Gramm Erlesenes für  24.90 Dollar. Doch das reicht nicht. Auch der neueste Konsumstatistik der USA von 2014 zeigt, dass das reichste Fünftel pro Kopf weiterhin „bloss“ 2 mal soviel konsumiert wie das ärmste. Bei den Nahrungsmitteln sind es gar nur 30 Prozent mehr. Auch in der Schweiz gibt das reichste Fünftel pro Kopf etwa doppelt soviel aus wie das ärmste.
 
Wenn also der Produktionschef von NT seine immer effizienteren Anlagen auslasten will, muss der den Personalchef dringend bitten, die Einkommen etwas gleichmässiger zu verteilen. Möglichst so, dass die Angestellten auch ihren Konsum auch nach der Pensionierung noch 15 bis 20 Jahre lang aufrecht erhalten können. „Und denk dran, zu viele Arbeitslose sind auch nicht gut für das Konsumklima.“ Der Personalabteilung von NT müsste also noch eine Pensionskasse, eine Arbeitslosenversicherung und eine Kinderkrippe angegliedert werden.
 
Was in unseren fiktiven Beispiel der Personal- und der Produktionschef zusammen aushecken, das hat in der Realität die Politik und die Sozialpartner vollbracht. Doch dabei ging es nicht nur um die Sicherung der Nachfrage, sondern um einen sozialpolitische Pakt: Wenn wir uns schon auf das Wagnis einer extremen Spezialisierung einlassen, muss die damit verbundene Unsicherheit und Abhängigkeit abgefedert werden. Man will in einer Gesellschaft leben, in der auch die Kinder der Armen zur Schule gehen, in der niemand mangels Geld an einer Blinddarmentzündung sterben müssen. Man mag nicht, dass Leute auf der Strasse leben usw. Kritische Ausgaben, wie etwa die für Bildung und Krankheit werden deshalb kollektiv statt individuell finanziert. Der Preis dafür sind Steuern.
 
Dieser soziale Pakt war das Erfolgsgeheimnis der westlichen Industriestaaten. Doch die ungleiche Beuteverteilung der Multis hat die Kosten des Sozialstaats erhöht und der Steuer- und Standortwettbewerb hat die Einnahmen dezimiert. Das Endergebnis lässt sich etwa an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der USA ablesen. Danach beliefen sich2014 die Ausgaben für soziale Transfers auf gut 2500 Milliarden Dollar. Auf je 5 Dollars, welche die US-Haushalte einnehmen, kommt noch einmal 1 Dollar vom Staat dazu. Im Schnitt. Beim ärmsten Fünftel ist es deutlich mehr als die Hälfte. Doch  um diese Soziallast zu stemmen, mussten die USA (der Staat) allein in den letzten fünf Jahren 6500 Milliarden Dollar zusätzliche Schulden aufnehmen. Rund die Hälfte der Sozialausgaben ist also mit Kredit gedeckt worden, der Rest mit Steuern. Diese Operation diente letztlich dazu, die Sparüberschüsse der Reichen in die Wirtschaft zurück zu pumpen.
 
Nicht alle Länder müssen sich zu diesem Zweck verschulden. Der Schweiz und Deutschland etwa ist dank ihrem Sieg im Standortwettbewerb  gelungen, die Sparüberschüsse zu exportieren. Doch selbst die Sieger im Nullsummenspiel des Standortwettbewerbs geraten durch die zunehmend ungleiche Verteilung in Bedrängnis. Deutschland zum Beispiel: Dort waren die Markteinkommen 1991 noch relativ gleich verteilt. Das Einkommen des Durchschnittsbürgers (der Median) lag nur um 9,4% unter dem Durchschnitt aller Markteinkommen. Die Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen war in etwa gleich. Steuern und Sozialleistungen mussten also keine nennenswerte Umverteilung bewirken. Spätestens ab 1999 änderte sich das. Bis 2009 gingen die Markteinkommen des ärmsten Fünftels um fast 20 Prozent und die der ärmeren Hälfte um  13 Prozent zurück. Auf diesen Schock war der Sozialstaat nicht ausgelegt. Er konnte die Einbussen bloss auf immer noch happige 13 bzw. 7,3 Prozent reduzieren, und musste akzeptieren, dass etwa ein Viertel der Arbeitnehmer in einen Niedriglohnsektor gedrängt wurden. Wer in dieser Unterschicht lebt, hat inzwischen eine um rund 10 Jahre kürzere  Lebenserwartung als Angehörige der Schicht, deren Einkommen um 50 Prozent oder mehr über dem Durchschnitt liegt.
 
Auch in der Schweiz geht die Ungleichheit der Markteinkommen alm allmählich an die Substanz der Sozialwerke. In der Stadt Zürich etwa sind die Sozial- und Pflegekosten allein von 2008 bis 2013 um 57 Prozent gestiegen. „In den Sozialämtern“ schreibt der Tages Anzeiger, „tauchen immer häufiger frisch Pensionierte auf, denen es im Verlauf des Berufslebens nicht gelungen ist, Altersvorsorge aufzubauen.“ Im ganzen Kanton seien bereits 12 Prozent der über 65jährigen auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Gemeinden, Kantone und Bund schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu und versuchen, sich für Sozialhilfeempfänger unattraktiv zu machen. Bürgerliche  Politiker fordern „nachhaltige“ Reformen des Sozialstaats. Wobei sich die Nachhaltigkeit ausschliesslich auf die Finanzen bezieht.
 
 
Inzwischen überlässt der überforderte und durch den Steuerwettbewerb ausgetrocknete Sozialstaat die Last der Anpassung immer mehr der Leidensfähigkeit der Unterschicht und der Alchemie der Finanzmärkte. Jede nicht real investierte Ersparnis der Reichen bewirkt ein Guthaben gegenüber den Armen, dem Staat, dem Ausland oder letztlich gegenüber einer Zentralbank.   Seit einigen Jahren kann der monetäre und damit der wirtschaftliche Kreislauf nur noch aufrecht erhalten werden, weil die Zentralbanken die Schulden der Staaten übernehmen.
 
Diese so genannte quantitative Erleichterung oder QE ist aktuell das wirtschaftspolitische Instrument. In der Tat kann man damit den Schaden der Ungleichheit begrenzen. Theoretisch könnte man das Instrument mit staatlichen Investitionen oder mit Helikoptergeld für die Armen ausweiten, und so das vorhandene Produktionspotential ausnützen. Damit würden die Zentralbanken das Verteilungsergebnis künstlich herstellen, das man auch mit einer vernünftigen Lohnpolitik  erreichen könnte. Doch zu einer solchen Lösung fehlt der politische Wille und wohl auch die Einsicht. Schulden sind nun mal moralisch verwerflich.
 
Deshalb bleibt nur ein Ausweg: Die Unternehmen müssen wieder zu einer einigermassen bedarfsgerechten Einkommensverteilung zurückzufinden. Nur so können sie ihre Produkte langfristig auch absetzen. Doch leider hat niemand ein Interesse daran, den ersten Schritt zu tun. Es ist das klassische Gefangenendilemma, aus dem man nicht mit Konkurrenz sondern nur mit (politischer) Kooperation heraus kommt. Dazu wiederum muss zunächst einmal das Problembewusstsein entwickelt werden. Der erste Schritt dazu wäre die Offenlegung der Beuteverteilung der Grossunternehmen. Die USA haben einen ersten Schritt gemacht. Der Dodd-Frank-Act schreibt den kotierten Unternehmen vor, den Medianlohn zusammen mit dem Top-Salär zu veröffentlichen. Doch damit neben dem moralischen auch der volkwirtschaftliche Aspekte der Problem klar wird, müsste mindestens auch noch  Median des untersten und des obersten Quintils sowie und des obersten Prozent offengelegt werden.
 
Die soziale Lunte brennt. Wir können die Explosion mit QE zwar vielleicht noch ein paar Jahre hinauszögern, aber die Diskussion um das wirkliche Problem hätte eigentlich spätestens bei der Finanzkrise von 2008 beginnen sollen. 


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