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22.12.2021 – Damals war die Welt der Ökonomen noch in Ordnung- Teil 1


 
 
VON WERNER VONTOBEL
 
Damals war das Gleichgewichtsmodell der „modernen“ Ökonomie noch eine brauchbare Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheide. Doch es beruhte auf stillschweigenden Annahmen, die längst nicht mehr zutreffen.
Höchste Zeit für ein realistischeres Modell.
 
Nichts gegen meine damaligen Professoren an der Universität Basel. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre war die Wirtschaftstheorie, die sie mich lehrten, noch einigermassen realistisch. Mein wichtigster Lehrer war Prof. Gottfried Bombach, einer der bekanntesten Vertreter der Keynesianismus. Diese Lehre besagt, dass die Marktwirtschaft grundsätzlich zum Gleichgewicht und zur Vollbeschäftigung führt, dass der Staat aber konjunkturelle Schwankungen mit steigenden oder sinkenden Staatsausgaben glätten muss.
 
Das hat im Grossen und Ganzen funktioniert. Bis  Ende der 1970er Jahren hatten wir in Westeuropa Vollbeschäftigung. Die Produktivität und mit ihnen die realen Stundenlöhne stiegen in Deutschland um rund 5 und in der Schweiz um 3 Prozent jährlich. Die Arbeitszeiten wurden bis 1980 kontinuierlich kürzer. In Deutschland um mehr als 25 und in der Schweiz etwa um 10 Prozent. Rückblickend sprach man von den „30 goldenen Jahren“. Bombach bezeichnete die Arbeitslosigkeit noch als „amerikanischen Krankheit“. In Europa war sie praktisch unbekannt.
 
Das war das geistige Umfeld, in dem meine Generation von Ökonomen ausgebildet worden ist. Wir waren damals alle fest davon überzeugt, dass unsere Wettbewerbswirtschaft den technologische Fortschritt erzwingen und ihn weiterhin steigenden Wohlstand für alle umsetzen würde. Das deckte sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen: In meinen ersten zwei Berufs-Jahrzehnten waren der Teuerungsausgleich plus Reallohnerhöhungen an der Tagesordnung. Und wir Ökonomen und die Wirtschaftspolitiker wussten, wie man gelegentliche Schwankungen überwinden, und wieder auf den „Wachstumspfad einschwenken“ konnte. An dieser Überzeugung änderte auch die Tatsache wenig, dass der Keynesianismus im Zuge der beiden Erdölkrisen von 1973 und 1979 zunehmend von Monetarismus – verkörpert durch Milton Friedman – bedrängt wurde.
 
Das Grundmuster blieb dasselbe: Wettbewerb gleich mehr Wohlstand für alle. Neu war bloss, dass der Staat die konjunkturellen Schwankungen jetzt mit anderen Mitteln ausgleichen musste: Die Steuerung der Geldmenge hatte die Fiskalpolitik ersetzt. Der Glaube an die wohlstandsstiftende Kraft des Markt und des Wettbewerbs blieb ungebrochen.
 
Doch das Unbehagen nahm zu. Der Produktionsfortschritt verlangsamte sich setzte ich immer weniger in Wohlstand für alle um. Die Arbeitslosigkeit verfestigte sich – mit steigender Tendenz. Was lief da schief? Die Frage richtete sich an die
neuen ökonomischen „Leitwölfe“ – etwa an Bombachs Nachfolger, Silvio Borner, der mit seinem Beststeller „Schweiz AG“ die Länder wie Firmen behandelten. Aus Volkswirtschaften wurden Standorte, die zueinander wie Privatunternehmen in Konkurrenz standen. Oder mehr noch: Zwecks Steigerung der Effizienz zueinander in Konkurrenz gesetzt werden mussten. Das hatte eine wichtige Folge: Die multinational tätigen Unternehmen konnten mit Verlagerungen drohen und so die „Standorte“ gegeneinander ausspielen. So konnten sie neben ihren Produkten gleich noch die Arbeitslätze verkaufen.
 
Diese neue Konstellation hinterliess tiefe Spuren im volkswirtschaftlichen Datenkranz, vor allem in der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung So kippte etwa das Vorzeichen des Finanzierungssaldo der Unternehmen vom negativen ins Positive. D.h. die Unternehmen konnten ihre Investitionen aus den laufenden Gewinnen finanzieren.  Im Gegenzug nahmen die Schulden der Staatshaushalte laufend zu und die Leistungsbilanzüberschüsse bzw. –Defizite der meisten Länder wurden chronisch. Per Saldo werden jedes Jahr drei bis fünf Prozent des BIP als Schulden bzw. Guthaben ins nächste Jahr übertragen, was einen immer mächtigeren Finanzsektor alimentiert.
 
Diese Datenlage legt folgenden Schluss nahe: Die Kapitaleinkommen steigen stärker als die Arbeitseinkommen. Damit sinkt tendenziell die  Nachfrage, was die Zunahme der Arbeitslosigkeit erklärt. Um diesen unheilvollen Trend zu stoppen, müssen die Löhne wieder gleich schnell wachsen wie die Produktivität. Doch damit ist auch gesagt, dass wir ein Verteilungsproblem haben und davor schrecken die meisten Ökonomen zurück. Schlecht für die Karriere. Deshalb ziehen es fast alle arrivierten Ökonomen vor, die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zu vergessen und die Arbeitslosigkeit damit erklären, dass die Löhne (nicht ihre eigenen, sondern bloss die der arbeitslosen Unqualifizerten) zu hoch seien. Wären sie tiefer, würden die Unternehmer mehr Jobs schaffen.
 
So in etwa argumentiert seit weit über 20 Jahren der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Und 15 Jahre lang hat der gewerkschaftsnahe Prof. Peter Bofinger der gewerkschaftsfernen Mehrheit vorgerechnet, wie wenig ihre Schlussfolgerungen dem oben erwähnten Datenkranz übereinstimmen. Anzeichen für einen echten Dialog waren nicht zu erkennen. Für mich hat damit die etablierte Ökonomie aufgehört, eine echte Wissenschaft zu sein.
 
In dieser Zeit ist Prof. Heiner Flassbeck, einst Staatssekretär unter Finanzminister Oscar Lafontaine und Chefökonom der Unctad, zu einem meiner wichtigsten Gesprächspartner und Ideenlieferant geworden. Er gehörte neben Bofinger zu den wenigen, der die Daten der Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in seine Überlegungen einbezog. Vor allem konnte er diese Zusammenhänge gekonnt dokumentieren formulieren und auf die Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Raumes anwenden. Von ihm stammt auch der Kernsatz „der Arbeitsmarkt ist kein Kartoffelmarkt“. Will heissen: Wenn der Preis für Kartoffeln sinkt, bietet der Bauer weniger Kartollen an und baut dafür etwas anderes an. Sinkt hingegen der Preis der Arbeit, bleibt dem Arbeitnehmer nicht anderes übrig, als noch mehr Arbeit anzubieten, und sei es zu einem Hungerlohn.
 
Genau dazu ist es gekommen, weil Deutschlands Karriere-Ökonomen und mit ihrem Segen die Wirtschaftspolitiker, die Arbeit mit  Kartoffeln gleichgesetzt und den Arbeitsmarkt flexibilisiert haben. Auch der ab 2015 eingeführte Mindestlohn von aktuell 9.50 Euro bringt bei einem Jahrespensum von 1600 Stunden (das kaum ein Unqualifizierter erreicht) ergibt das monatlich nicht einmal 1000 Euro netto. Das reicht noch nicht einmal zum Überleben, geschweige denn um eine Familie zu gründen.
 
Doch höhere Löhne und eine gerechtere Verteilung sind nicht nur ein sozialpolitisches Anliegen. Auch aus rein ökonomischer Sicht sind Deutschland und auch die Schweiz auf höhere Löhne und Renten angewiesen, wenn sie ihr Produktionspotential ohne hohe Exportüberschüsse auslasten wollen. Aus der Perspektive der Ökologie und der Lebensqualität stellt sich aber auch die Frage, ob wir wirklich bis zur vollen Auslastung der Kapazitäten konsumieren und produzieren sollen. Man bedenke: Seit Mitte der 1970er-Jahre hat sich die Normarbeitszeit in Deutschland kaum mehr verändert, die Produktivität hat sich aber rund verdoppelt. Um die Vollbeschäftigung auf dem damaligen Niveau zu halten, müsste wir somit den Konsum verdoppeln. Sollte man da nicht lieber das nachholen, was wir an Reduktion der Arbeitszeit versäumt haben?
 
Dazu eine kleiner Exkurs: Wirtschaftshistoriker haben den Vorteil, dass ihr Blick auf die ökonomische Realität nicht durch ein Modell verstellt wird. „Beobachten, bis einem die Augen weh tun“, war etwa die Devise von Fernand Braudel, dem Altmeister der Wirtschaftsgeschichte. Auch John P. Powelsons hat ausgiebig beobachtet. In seinem Hauptwerk „Centuries of Economic Endevour“ hat er die wirtschaftliche Entwicklung oder Stagnation über viele Jahrhundert in fünf Kontinenten analysiert und ist zum Schluss gekommen, eine ökonomische Entwicklung immer nur dann zustande kommt, wenn die Schwachen Verbündete finden und so ein ungefähres Gleichgewicht der sozialen Macht erreicht werden kann. Damit hat Powelson meinen Begriff vom Gleichgewichtsmodell entscheidend erweitert. Eine andere wichtige Einsicht verdanke ich einem Gespräch mit der
belgischen Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch. Sie lautet so: „Alle ökonomischen Gesetze gelten immer nur so lange bis die hinterfragten Annahmen auf denen sie beruhten, von der Geschichte überholt werden.“ Damit konnte ich meine Frage nach dem, was da schief lief, präzisieren: Welche der stillschweigenden Annahmen, auf denen der Erfolg der „goldenen 30 Jahre“ beruht, treffen heute nicht mehr zu? 
 
Das bringt uns zurück zur Frage nach den Arbeitszeiten. Damals hat der Arbeitsmarkt tatsächlich fast wie ein Kartoffelmarkt funktioniert, bzw. so, wie es das Modell vorsieht. Danach sind alle „Wirtschaftssubjekte“ umfassend informiert, auch über ihre künftigen Ausgaben und Einnahmen. Dank einem gut ausgebauten Sozialstaat ist dies wenigsten halbwegs der Fall. Ich muss nicht auf Vorrat arbeiten und jeden Franken auf die hohe Kante legen, um für den Fall von Arbeitslosigkeit oder Krankheit Vorsorge zu tragen. Diese Risiken wurden kollektiviert. Zudem haben der
Staat und die Sozialpartner die Arbeit des Marktes übernommen und dafür gesorgt sorgten nämlich dafür, dass die Arbeitszeiten in etwa so schnell sanken, wie die Zuwachsrate der Produktivität die des Konsums überstieg. Das war in etwa, was gemäss dem Modell theoretisch zu erwarten war. Der Erfolg der goldenen Dreissig beruhte somit auf der nie hinterfragten Annahme, dass sich die Normarbeitszeit der Produktivität anpasste. Oder allgemeiner formuliert: Dass die Politik die Rahmenbedingungen schafft, unter denen der Markt so funktioniert, wie es im Lehrbuch der Markt-Ökonomen steht.
 
Seit Ende der 1970 stockt dieser Prozess. Zwischen der durchschnittlichen und der „regulären“ Arbeitszeit klafft inzwischen eine Lücke von fast 10 Wochenstunden. Sie wird „gefüllt“ von Teilzeitjobs, Arbeit auf Abruf sowie von versteckter und offener Arbeitslosigkeit. Auch der Sozialstaat wurde abgebaut und zwar bewusst so, dass die Arbeitnehmer einen Anreiz haben, auch mies bezahlte Jobs anzunehmen. Und weil tiefere Löhne auch weniger Konsum und weniger Arbeit bedeuten, sassen die Arbeitgeber an einem viel längeren Hebel, was das ungefähre Gleichgewicht der sozialen Kräfte aus den Angeln gehoben hat.
 
Waren die Ökonomen zu dumm, um diese offensichtlichen Zusammenhänge zu sehen? Das ist sicher ein Teil der Erklärung. Auch mir hatte einst die Vorstellung eingeleuchtet, dass unter den Bedingungen des totalen Wettbewerbs kein Marktteilnehmer Macht ausüben kann. Wahrscheinlicher ist aber die Erklärung, dass die meisten Ökonomen clever genug sind, sich auf die Seite der Sieger zu stellen. Die These , wonach Arbeitslosigkeit letztlich daher kommt, dass staatliche Eingriffe und gewerkschaftliche Einmischung der freie Spiel von Angebot und Nachfrage stören, ist klar im Sinne der Arbeitgeber und des Kapitals.
 
Wer als Ökonom Karriere machen will, tut gut daran, das Lied derer zu singen, die das Brot verteilen. Banken und Arbeitgeberorganisationen zahlen besser als Gewerkschaften. Unter den fünf deutschen „Wirtschaftsweisen“ wird immer nur einer von den Gewerkschaften nominiert. Wird man als Wirtschaftsjournalist von den Gewerkschaften zu einem Referat eingeladen, winken also Honorar zwei Flaschen Wein. Banken und liberale Think-Tanks honorieren gerne vierstellig. Und wenn man den richtigen Sound drauf hat, kann man sein Gehalt substantiell aufhübschen.
 
Dass sich die Ökonomen auf die Seite der Mächtigen schlagen, ist nicht neu. „Die Herrschaftsgeschichte der Wirtschaftslehre ist zutiefst geprägt vom unablässigen Versuch der Eliten, Gerechtigkeitsforderungen abzuwehren und gesellschaftliche Normen zurückzudrängen, , die der Entfaltung der individuellen Gier Grenzen setzen.“ Das schreibt Bernhard Ungericht, in seinem Buch „Immer mehr und nie Genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Masslosigkeit“. Ist das wirklich so? Ist das berühmte Zitat von Adam Smith, wonach wir unsere Mahlzeit „nicht dem Wohlwollen des Bäckers verdanken“, sondern „dessen Rücksicht auf ihr eigenes Interesse“, wirklich die „grundlegende Einsicht“, als die sie uns im Studium verkauft worden ist? Oder ist dieses Zitat nur deshalb zum grundlegenden Glaubensatz der modernen Ökonomie geworden, weil damit die eigennützige Gier gerechtfertigt wird? Ich kann mich nicht erinnern, dass solche Frage im Studium oder in einem Lehrbuch erörtert worden sind.
 
Dennoch: Interpretiert man das Gleichgewichtsmodell der Ökonomie pragmatisch – nämlich als ungefähres Gleichgewicht der sozialen Macht – dann könnte es durchaus als Grundlage für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik dienen.  Man müsste – wie es u.a. Heiner Flassbeck seit mindestens 30 Jahren fordert – „“bloss“ dafür sorgen, dass die Löhne in etwa gleich schnell steigen wie die Produktivität. Das wäre zumindest schon die halbe Miete, geht aber nicht ohne staatliche Eingriffe in die Lohnpolitik.
 
Gleichgewichtsmodell pragmatisch anwenden. Das war bis vor etwa zehn Jahren in etwa der Stand meiner Erkenntnisse. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass das reicht. Dazu hat sich die Welt zu sehr verändert. Heute braucht die Wirtschaftspolitik eine theoretische Grundlage, welche die unbezahlte Arbeit einbezieht. Noch vor der Frage nach der richtigen Arbeitsmarktpolitik müssen wir die Frage nach dem Marktanteil des Marktes klären: Welche unsrer produktiven Tätigkeiten sollen wir dem Markt anvertrauen? Was überlassen wir besser dem über Jahrmillionen eintrainierten Koordinationsmechanismus der Bedarfswirtschaft?
 
Oder anders gefragt: Was können wir Ökonomen nicht nur von den Wirtschaftshistorikern, sondern auch von den experimentellen Ökonomen, den Soziologen, Ethnologen und Evolutionsforschern lernen?
 
Mehr dazu im zweiten Teil.
 
Bernhard Ungericht.“Immer-mehr und Nie-Genug“, Metropolis 2021
 
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 «Eine Ökonomie der kurzen Wege»
 
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