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12.01.2018 – Was uns die Ungleichheit wirklich kostet

Moderne Industriestaaten müssen mindestens einen Viertel ihres BIP allein dafür aufwenden, die Folgen der wachsenden Ungleichheit zu bewältigen, wie dieser Beitrag zeigt.

Unsere Marktwirtschaft ist aus der Sicht der Evolution eine einmalige Kuriosität: Andere Spezies kennen zwar auch ein gewisses Mass an Arbeitsteilung, aber die gemeinsame Beute wird immer nur physisch verteilt, konsumiert und in Besitz genommen. Wir Menschen verteilen die Beute seit etlichen Generationen zweimal: Einmal rein physisch und dann noch einmal rechtlich in Form von Geld, bzw. von Anrechtsscheine auf die gemeinsame Beute.

Der Vorteil dieses Doppelgemoppels ist offensichtlich: Es ermöglicht eine extreme Arbeitsteilung und raffinierte Anreizsysteme.

Die Marktwirtschaft ist gut darin, die Produktion effizient zu organisieren. Der Nachteil dieses Verteilungssystem liegt unter anderem darin, dass sich die rechtliche Verteilung immer weiter und dauerhafter von der Verteilung des effektiven Konsums entfernt. Die Folge davon ist eine – aus evolutionärer Sicht – geradezu groteske Anhäufung von Anrechtsscheinen, bzw. finanziellen Schulden und Guthaben. Das wiederum erfordert erstens einen hohen bürokratischen Aufwand, und schafft zweitens falsche Anreize.

Nun zu den Fakten: So weit sich die physische Verteilung anhand der einschlägigen Statistiken eruieren lässt, zeigt sich ein typisches Muster: Das reichste Fünftel konsumiert in etwa doppelt so viel wie das ärmste. Der Konsum der mittleren drei Fünftel weicht kaum mehr als 15% vom Durchschnitt ab. Dieser liegt nur leicht über dem Median. In der Schweiz etwa zeigt die Statistik der Haushaltsausgaben und -Einnahmen der Paarhaushalte (ohne Kinder) unter 65 folgende monatliche Konsumausgaben inkl. Krankenkasse: 9684 Franken beim reichsten und 5047 Franken beim ärmsten. In den USA zeigt der Consumer Expenditure Survey jährliche Konsumausgaben von rund 93'000 Dollar beim reichsten und 24'500 Dollar beim ärmsten Fünftel. Berücksichtigt man, dass die reichen Haushalte im Schnitt 3,1, und die armen nur 1,6 Mitglieder haben, kommen wir pro Kopf wieder auf einen Faktor von ziemlich genau 2 zu 1. Dieser ist übrigens seit 1999 nicht grösser geworden. Diese Konstanz über Raum und Zeit ist nicht erstaunlich. Schliesslich haben alle Menschen zumindest dieselben Grundbedürfnisse.

Ganz anders sieht die Verteilung der finanziellen Ansprüche aus. Typischerweise teilt der Markt dem reichsten Zehntel gut 30% und dem reichsten Fünftel 50% zu, während für das ärmste Fünftel nur noch Brosamen übrig bleiben. In der Schweiz etwa kassiert laut Steuerstatistik das reichste Zehntel 34,6%, das reichste Fünftel 50,2% und das ärmste Fünftel bloss 2,3% aller Einkommen. In den USA zeigt der Consumer Expenditure Survey CSE folgende Werte: 36% für das reichste Zehntel, 53% für das reichste Fünftel und nur 3% für das letzte Fünftel. In Deutschland ergibt die Statistik der Marktäquivalenzeinkommen ganz ähnliche Werte, nämlich 31, 49 und bloss 1,3% für das ärmste Fünftel. Die Statistiken sind zwar untereinander nicht direkt vergleichbar, aber die Grössenordnungen gleichen sich auffällig.

Die vier Kostenblöcke

Diese enorme Diskrepanz zwischen der juristischen und der physischen Verteilung ist mit hohen Kosten verbunden, die sich in vier Blöcke einteilen lassen:

Erstens muss Kaufkraft mit viel bürokratischem Aufwand von den Reichen zu den Armen zurück transferiert werden.

Zweitens muss die Wirtschaft mit hohem Werbeaufwand die Kaufkraft der Reichen mobilisieren, um so Nachfrage für Bedürfnisse zu schaffen, die es eigentlich gar nicht gibt.

Drittens müssen die durch die Ungleichheit kumulierten finanziellen Ansprüche der Reichen verwaltet werden.

Viertens: Ungleichheit ist ursächlich mit schlechter Arbeitsqualität verbunden. Die damit verbundenen Kosten schlagen sich aber unter anderem in höheren – durch die Ungleichheit bedingten – Gesundheitsausgaben nieder.

Fangen wir dem ersten Kostenblock an, der fiskalischen Rückverteilung. Zu diesem Zweck muss der Staat erst einmal den Reichen Geld abknöpfen. In den USA etwa zahlt das reichste Fünftel fast 80% aller Einkommenssteuern. In der Schweiz entrichtet das reichste Zehntel 80% der direkten Bundessteuer. Bei den so fällig werdenden Summen kann es sich durchaus lohnen, viele tausend Dollar oder Franken in Steuerberater oder besser gleich in die zuständigen Politiker zu investieren, oder Ausgaben zu tätigen, die in erster Linie der Steuervermeidung dienen. Längst ist die Steuervermeidung zu einer kleinen Industrie geworden. Auch das Eintreiben der Steuern beschäftigt zahllose Beamte und kostet viel Geld. Vorsichtig geschätzt, dürfte allein schon die durch die Ungleichheit nötig gewordene steuerliche Umverteilung 2% des BIP kosten.

Viel erreicht ist damit allerdings noch nichts. In den USA klaffen die Einkommen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel auch nach Steuern immer noch um den Faktor 13 (vor Steuern Faktor 17) auseinander. Es muss folglich noch sehr viel Kaufkraft gezielt zu denen transferiert werden, die von ihrem Markteinkommen (und den durch Abgaben selbst finanzierten Renten) nicht überleben können. Das erfordert eine riesige Arbeitsmarkt- und Sozialbürokratie. Ansprüche müssen geprüft, erstritten, ausbezahlt und kontrolliert werden. In Deutschland läuft das unter dem Stichwort Hartz-4. Allein die Bundesagentur für Arbeit beschäftigt rund 100'000 Mitarbeiter.

Doch auch für die direkt Betroffenen, ihre Angehörigen und für die Helfer ist Sozialhilfe mit viel Arbeit verbunden – sich beraten lassen, Formulare ausfüllen, Zeugnisse einholen, der Gang durch die Behörden, Rückkommensanträge etc. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-4-Haushaltes soll laut Informationen der "Süddeutschen" 650 Seiten dick sein. Da es keine Studien über Bürokatiekosten der staatlichen Rückverteilung gibt, hier eine kleine Überschlagsrechnung: Wenn in einer ungleichen Gesellschaft jeder vierte Einwohner in irgendeiner Weise von staatlichen Zuschüssen abhängig ist, und wenn die bürokratischen Aufwendungen aller Beteiligten pro Fall auch nur 10% einer Vollzeitstelle beanspruchen, dann belaufen sich die Gesamtkosten auf 6 bis 7 % aller Arbeitsleistungen bzw. des BIP. (Unter der Annahme, dass 50% der Bevölkerung erwerbstätig sind und dass jede Arbeitsstunde gleich viel wert ist.)

Kommen wir nun zum zweiten Kostenblock – zur Verwaltung und Vermehrung der angehäuften Guthaben. Diese Kosten sind umso höher, je weiter die physische und die juristische Verteilung auseinanderklaffen, bzw. je mehr Guthaben die Reichen gegenüber den Armen (bzw. gegenüber dem Staat) anhäufen können. In den USA etwa kann das reichste Fünftel der Haushalte jährlich gut 10% des BIP auf die hohe Kante legen, wobei die Anteile an den thesaurierten Unternehmensgewinnen nicht mitgezählt sind. Inzwischen beträgt dort das Bruttovermögen aller (bzw. der reichsten 20% der) Haushalte 112'000 Milliarden Dollar oder gut das Elffache aller Arbeitseinkommen.

Bei diesen Verhältnissen erstaunt es nicht, dass die Verwaltung, Vermehrung und Absicherung der Guthaben zur wichtigsten Industrie einer ungleichen Wirtschaft geworden ist – womit wir beim nächsten Kostenblock angelangt sind. In den USA etwa ist der Anteil der Finanz- und Immobilienbranche (ohne Bau) seit Mitte der 1960er Jahre von rund 7 auf 24% des BIP gestiegen. In der Schweiz betrug der Anteil der Banken und Versicherungen 2015 16,3% ein Plus von gut 3 Prozentpunkten gegenüber 1995.

Dass die Finanzspekulation immer mehr zur teuren Obsession wird, illustriert der Boom der Kryptowährungen. Bisher sind etwa 2000 verschlüsselte Privatwährungen entwickelt und vertrieben worden, wovon am 3. Januar 2018 noch 1386 im Marktwert von 695 Milliarden Dollar auf insgesamt 7476 digitalen Handelsplattformen gehandelt wurden. Allein der Betrieb von Bitcoin, der weltweit führenden Kryptowährung, soll mehr Strom verschlingen als die ganze Slowakei. Die Schürfkosten pro Bitcoin werden aktuell auf 6500 Dollar (Strom und Hardware) geschätzt, und dürften auf 16'000 Dollar steigen.

Nun braucht natürlich auch eine egalitäre Gesellschaft einen Finanzsektor. Da es sich dabei aber im Wesentlichen um Datenverarbeitung handelt, hätte man sinkende BIP-Anteile erwarten müssen. Doch offensichtlich hat die zunehmende Ungleichheit diesen Trend ins Gegenteil verkehrt. Mindestens 10% des BIP dürften auf diesen Kostenanteil entfallen. Tendenz stark steigend.

Je ungleicher die Kaufkraft verteilt ist, desto mehr muss nämlich – und damit sind wir beim dritten Kostenblock – die Wirtschaft bestrebt sein, mit viel Werbeaufwand denen etwas zu verkaufen, die eh schon alles haben. Es müssen viele Prestigeprodukte (Golf, Luxusautos, Zweitresidenzen) hergestellt und mit Prestige aufgeladen werden. Selbst bei einem Nahrungsmittelhersteller wie Nestlé, der eigentlich für den Grundbedarf produziert, machen Marketing und Vertrieb etwa 45% der eigentlichen Herstellungskosten aus. Trotzdem ist noch Luft für einen Gewinnanteil von gut 10% am Gesamtumsatz.

Unten in der Einkommenspyramide ist weniger Luft. Da wird das wenige Geld vor allem für die Stressbewältigung gebraucht. So gibt etwa das ärmste Zehntel der US-Haushalte pro Erwachsenen mehr als doppelt so viel für Tabakwaren aus als das reichste Zehntel (das nach Steuern etwa 30-mal mehr verdient). Auch der hohe Anteil (gut ein Drittel) der Verkehrskosten gemessen am Lohneinkommen deutet, dass die Unterschicht fast jeden (noch so weit entfernten) Job annehmen muss und dass die (unbezahlten) Wegzeiten in einem schlechten Verhältnis zur (schlecht bezahlten) Arbeitszeit steht. Auch die Heizkosten in den schlecht isolierten Häusern verschlingen einen hohen Anteil der Einkommen.

Wie Richard Wilkinson und Kate Pickett in "The Spirit Level" gezeigt haben, gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen der Ungleichheit der Einkommen und Drogenkonsum, Übergewicht, psychischen Erkrankungen, Scheidungsraten, Kriminalität, Abtreibungen, Misstrauen usw. All das kostet Geld, braucht mehr Psychiater, Krankenhäuser, Sozialarbeiter, Scheidungsanwälte Gerichte usw. In den extrem ungleichen USA etwa belaufen sich die Ausgaben für Gesundheit inzwischen auf 16,6% des BIP, gegenüber etwa 8 bis 9% in weniger ungleichen Ländern. Auch Gefängnisse kosten. Eine Studie schätzt die jährlichen Kosten in den USA – wo etwa 0,5% der Gesamtbevölkerung einsitzt, auf 1000 Milliarden Dollar oder etwa 6% des BIP.

Wieviel die Beseitigung der Trümmer der Ungleichheit kostet

Wenn wir diesen dritten Kostenblock vorsichtig mit 10% des BIP beziffern und die drei Blöcke addieren, kommen wir zur Erkenntnis, dass wir gut einen Viertel des BIP bloss dafür aufwenden, die Trümmer der Ungleichheit zu beseitigen. Allerdings deuten unsere Überlegungen auch an, dass das BIP kein guter Massstab für Wohlstand, geschweige denn für ein gutes Leben ist. Das zeigt sich erst recht, wenn wir uns nun dem vierten Kostenblock zuwenden: Die Evolution hat uns so programmiert, dass wir an der Jagd genau so Freude haben wie an der Beute. Bruno S. Frey spricht von Prozessnutzen (Jagd) und Ergebnisnutzen. Der Gesamtnutzen hängt also in hohem Masse davon ab, wie Arbeit organisiert ist. Und damit sind wir beim Punkt:

Ungleichheit ist in der Regel mit einer hierarchischen Organisation der Arbeit verbunden. Dabei wird viel Arbeit mit reiner Überwachung und Bürokratie verschwendet. Dazu gibt es zahlreiche empirische Befunde. So haben die beiden US-Ökonomen Samuel Bowles und Arjun Jayadev den Zusammenhang von Ungleichheit und Überwachungsarbeit (Polizei, Militär, Sicherheitspersonal, Aufsichtspersonen, Rüstungsindustrie etc.) in 18 Industriestaaten untersucht. Ergebnis: Je grösser die Ungleichheit, desto mehr Kontrollpersonal. Das geht von 24,6% aller Beschäftigten in Griechenland über 22,2% in den USA bis 9,7% in der relativ egalitären Schweiz.

Alfred Kleinknecht hat die "angelsächsischen" Länder mit ihren flexibilisierten Arbeitsmärkten mit den Ländern des "rheinländischen Kapitalismus" mit relativ starkem Arbeitnehmerschutz, höheren Löhnen und grösserer Arbeitsautonomie verglichen und festgestellt, dass letztere deutlich produktiver sind. Der Vergleich mit 20 Ländern über 44 Jahre zeigt, dass jedes Prozent weniger Lohnerhöhung die Produktivität pro Arbeitsstunde um 0,3 bis 0,5% senkt. Der Hauptgrund dafür liegt gemäss Kleinknecht in der aufgeblähten Bürokratie und an dem durch den häufigen Stellenwechsel bedingten Verlust an betriebsinternem Knowhow.

Vor allem aber macht diese Art von Arbeit sehr viel weniger Spass. Wer bei der Arbeit stark kontrolliert wird und über wenig Entscheidungsfreiheit verfügt, hat bei gleichem Lohn viel weniger Freude am Leben. Gemäss dieser Studie sind dabei vor allem folgende Umstände wichtig: Ist die Arbeit so organisiert, dass man sich gegenseitig hilft statt konkurrenziert? Ist der Job sicher? Kann ich das Arbeitstempo selbst bestimmen? Habe ich neben der Arbeit noch Zeit für Familie und Freunde? Dass die Lebenszufriedenheit mindestens so wichtig ist wie der Lohn, zeigt etwa diese Studie, wonach allein ein kürzerer Arbeitsweg (0 statt 23 Minuten) gleich viel wert ist, wie eine Lohnerhöhung um 19%. Die Autoren vermuten folgende Kausalität: Je länger der Arbeitsweg, desto weniger Zeit für Freunde und Familie.

Es ist Zeit, dass Verteilungsfragen auch für Ökonomen nicht bloss zu einem, sondern zu dem Thema werden.

©KOF ETH Zürich, 12. Jan. 2018




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