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15.01.2019 – Frankreich legt den Finger auf den wunden Punkt


 
Die Vorgänge in Frankreich eignen sich als abschreckende Fallstudie  in dem noch zu schreibenden Lehrbuch der globalisierten Marktwirtschaft.
 
 
Wer dereinst das Ende der globalisierten Marktwirtschaft verstehen, will, muss in Frankreich ansetzten. Dort hat Ende 2018 eine scheinbar harmlose politische Entscheidung - die Erhöhung des Preises für Diesel um 6,5 Cents - zu einem kollektiven Aufschrei und Aha-Erlebnis geführt. Alle drei Schwachpunkte dieser Wirtschaftsordnung - Umwelt, Mobilität und Verteilung – sind schlagartig sichtbar geworden und haben den Aufstand der Gelben Westen provoziert.  Mit seiner Fernsehansprache an sein Volk hat der franzöische Präsident Emanuel Macron gezeigt, dass die Elite die Botschaft nicht verstanden hat –auch das ist typisch.
 
Beginnen wir mit dem offensichtlichsten Schwäche, die selbst Ökonomen eigentlich auffallen müsste: Die globalisierte Marktwirtschaft verteilt ihre Beute so, dass das System nicht lange überleben kann. In Deutschland etwa kassieren die reichsten 10% der Haushalte gemäss der World Inequality Database 40,3% aller Einkommen vor Steuern gegenüber bloss 16,7% für die ärmste Hälfte. In den USA lauten die entsprechenden Zahlen  47,2 und 12,6%.  Mit mit 35 für das oberste Zehntel und 22,4% für die untere Hälfte ist Frankreich ein relativ egalitäres Land, vergleichbar in etwa mit der Schweiz.  
 
Aber auch bei dieser Verteilungen wäre nach nur einer Generation die Hälfte der Bevölkerung verhungert, wenn nicht der Staat den Reichen wieder etwas wegnimmt. Sofern er sie erwischt.  Doch gernau das wird umso schwieriger, je reicher und damit mobiler die Oberschicht wird. Macron hat dieses Problem in seiner Rede ausdrücklich erwähnt: Er könne die Vermögenssteuer nicht wieder einführen, weil  es sich gezeigt habe, dass die Reichen das Land dann einfach verlassen.  Was den Präsidenten nicht daran gehindert hat, nur 70 Sekunden später eindringlich und feierlich die Einheit der Nation zu beschwören: „Vive la France!“ Gemeint war vermutlich: Wenn sich die Reichen mit der Beute davon machen, müssen wenigstens wir Ortsgebundenen zusammenhalten.
 
Ortsgebunden? Ortsvertrieben! Im globalisierten  Markt gibt es nämlich noch eine zweite mobile Schicht. Beide,  die Reichen und die Migranten, zieht es in die Städte – wo die Bodenpreise in den Himmel steigen. Die Immigranten können sich die Mieten leisten, weil sie bereit sind, auf engstem Raum in Bruchbuden zu wohnen.  Und wenn dann die heruntergekommenen Quartiere luxussaniert worden sind, zieht die Oberschicht ein. Der Mittelstand muss in die Provinz ausweichen, wo es aber immer weniger Jobs gibt.  Dieser doppelte Hebel von Einwanderung und einseitiger Verteilung hat in kurzer Zeit halb Frankreich umgesiedelt. Der französische Geograph Philippe Guilluy hat dieses Grundmuster in seinem Buch „La France Périphérique“ nachgezeichnet.
 
 
Auch Julie,  ihre kleine Tochter und ihr Mann sind betroffen. Sie haben sich in Grandpuits-Bailly, 75 Kilometer südöstlich von Paris, ein Pavillon gekauft. Sie verdient 1400 Euro, er 1600. Netto sind das zusammen etwa 2350 Euro. Hypozins und Amortisation verschlingen 950 Euro, ihre zwei Dieselautos weitere 600. Ein Holzofen spart Stromkosten,  Gemüse und Eier kommen aus dem eigenen Garten. Neue Kleider oder gar Ferien liegen nicht mehr drin. Sie hat Probleme mit den Zähnen, er mit den Augen, doch das muss warten. „Wir beginnen jeden Monate mit einem Minus von 500 Euro“, berichten sie der „Liberation.“
 
Die Wirkung der Gilets Jaunes beruht auch darauf, dass solche Geschichten inzwischen zu tausenden auf allen Kanälen und am Lagerfeuer der Strassensperren weiter erzählt worden sind. Der Refrain ist immer derselbe: Wir wollen endlich wieder leben, statt nur noch zu überleben.
Die Franzosen beginnen zu ahnen, dass sie deshalb am Monatsende keine Suppe mehr auf den Tisch kriegen, weil andere – Kader, Sportstars, Fondsmanager – diese schon mit der ganz grossen Kelle ausgelöffelt haben. Historiker werden die heutige Wirtschaftsordnung wohl mal so veranschaulichen:„Um einen Federer oder Ronaldo am TV bewundern zu können, hat man je etwa 40'000 Arbeitskräfte auf den Mindestlohn gesetzt. Von nichts kommt nichts, there is no free lunch, wie man damals sagte.“
 
Doch es geht nicht nur um Geld, sondern auch darum, dass die globalisierte Wirtschaft mit ihren Ansprüchen an Flexibilität und Mobilität die Menschen isoliert und  die Gesellschaft desorganisiert. 60% der Neueinstellungen in Frankreich sind auf einen Monat oder weniger befristet. Neben 10% Arbeitslosen gibt es in den Marktgesellschaften noch rund 20% Arbeitsnomaden, die immer schon auf der Suche nach dem nächsten Job sind. Das trifft vor allem die Jungen, die eigentlich mal eine Familie gründen wollten.
 
Genau diese Entwicklung hat der ungarisch-amerikanische Ökonom Karl Polanyi 1944 vorausgeahnt. In seinem Buch „The Great Transformation“ analysiert er, was einer Gesellschaft droht, wenn – Arbeit und Boden zu handelbaren Gütern werden, wie dies in der Frühindustrialisierung geschehen ist. Mit der Folge, so Polanyi, dass das „Prinzip des Eigennutzes“ die auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen und ökologischen Bindungen der vorkapitalistischen Gesellschaft ausgehöhlt hat. Mit der grossen Transformation sei die Menschheit einen faustischen Pakt eingegangen: Tausche eine deutlich bessere materielle Versorgung gegen das Risiko der sozialen Verarmung. Um diese Gefahr zu begrenzen,  müsse die Marktwirtschaft erstens „institutionell eingebettet“ werden zweitens gelte es, die Institutionen der solidarischen Wirtschaft intakt zu halten. Gemeint sind damit Familien, Nachbarschaften und Genossenschaften.
 
Diese Einbettung ist mit dem Aufbau des Sozialstaats in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einigermassen gelungen. Damals wurden auch die Theorien vom Allgemeinen Gleichgewicht verfeinert. Sie werden heute noch gelehrt. Danach beschleunigt der Wettbewerb den technologischen Fortschritt und dafür sorgt, dass sich dieser in steigenden Wohlstand für alle verwandelt. Zum Gleichgewicht gehört auch, dass der Markt mit seinen Löhnen und Dividenden immer genau die nötige Nachfrage schafft.
 
Doch ökonomische Gesetze gelten - wie der Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch angemerkt hat – immer nur unter bestimmten, nicht abschliessend bekannten Rahmenbedingungen.  Tickt der Markt nicht mehr gemäss Lehrbuch, stellt sich die Frage, welche  veränderten Rahmenbedingungen daran schuld sein könnten. Folgt man Macron und dem Mainstream, liegt es an den „verkrusteten“ Märkten die „flexibilisiert“ werden müssen, wozu es  „Strukturreformen“ brauche.
 
Folgt man hingegen Polanyi, drängt sich eine andere Erklärung auf: In einer durchflexibilisierten Marktwirtschaft  wird bezahlte Arbeit immer mehr zur einzige Chance, das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit zu stillen. Zugleich bewirkt der technologische Fortschritt, dass die materiellen Bedürfnisse mit immer weniger Arbeit befriedigt werden können. Dadurch wird die bezahlte Arbeit zum knappen Gut. Die Unternehmen können sich dann nicht nur für ihre Produkte bezahlen lassen, sondern auch für die Arbeitsplätze, die sie „schaffen“ oder auch nur  nicht verlagern.
 
Und Macron ist bereit zu zahlen. In seiner Rede, mit der er eigentlich den Zorn der Massen besänftigen wollte, hat er den Unternehmen weitere Zugeständnisse gemacht: Mit der Befreiung der Überstunden von allen Steuern und Abgaben, hat er die Arbeit verbilligt – und zugleich die Arbeitslosen vor den Kopf gestossen: Überstunden sind nun für Arbeitgeber attraktiver als Neueinstellungen. Auch die Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro soll die Unternehmen keinen Cent kosten. Der Staat übernimmt. Die Zeche beläuft sich auf und 10 Milliarden, dabei hatte die Regierung eh schon 40 Milliarden Euro  für Lohnsubventionen budgetiert: Alle Löhne bis 2550 Euro sollen durch den Erlass von Sozialabgaben um 10%, die bis 4000 Euro um  6% verbilligt  werden. Im globalen Markt müssen die Unternehmen nicht einmal für das Existenzminimum aufkommen.
 
 
Doch genau deshalb fehlen auch die Jobs. Mit einem Mindestlohn, der auch nächstes Jahr noch den Faktor 6 unter der Stundenproduktivität von 55,2 Euro liegt, schafft man keine Nachfrage. Was sich der französische Konsument mit 1600 Euro leisten kann, lässt sich mit 8 Wochenstunden Arbeit herstellen. In Deutschland und erst recht in Italien, Spanien, Griechenland etc. ist die Kluft zwischen Produktivität und Massenkaufkraft noch grösser. Sogar die Schweiz, wo die Produktivität „nur“ etwa um das Vierfache über den tiefsten Löhnen liegt, braucht riesige Exportüberschüsse, damit sie  ihre Produktionskapazitäten und Arbeitskräfte auslasten kann.
 
Doch anders als in der eingebetteten Marktwirtschaft hängt im globalisierten Markt spielt die einheimische Massennachfrage in der globalisierten Wirtschaft nur eine Nebenrolle. Dort spielt die Musik im oberen Segment. Nach der neuesten Studie von Bain & Company wächst der globale Luxusmarkt jährlich um rund 5% und beläuft sich aktuell auf 1200 Milliarden Euro. Vor allem luxuriöse Kreuzfahrten seien gefragt. Die Oberschicht wird bedient von Multis, die dort verkaufen, wo die Kaufkraft hockt,  und die dort produzieren, wo die Arbeit zurzeit gerade am billigsten ist. Geforscht und verwaltet wird dort, wo für die  teuren Kader die besten Wohnlagen und die aktuell tiefsten Steuern locken.
 
Ein zweiter stotternder Jobmotor der globalisierten Wirtschaft ist die „Flexibilisierung“.  Sie sorgt dafür, dass wir immer weniger Zeit zum Kochen, Einkaufen, Kinderhüten etc.  haben. Da trifft es sich gut, dass die Regierung die tiefen Löhne (wie Macron) von den Soziallasten befreit und so einen Markt für Millionen von Pizzakurieren, Nannys, Schuhputzer, Taxidienste etc. schafft. In Deutschland sind auf diese Weise zwischen 1992 und 2013 rund 13 Milliarden unbezahlte in (mies) bezahlte Arbeit umgewandelt worden. Das entspricht etwa einem Fünftel aller bezahlten Arbeit.
 
Unsere flexibilisierte Gesellschaft hängt wie ein Süchtiger am immer dünneren Faden der bezahlten Arbeit. „Sozial ist, was Arbeit schafft“, sagen sogar die (deutschen) Sozialdemokraten. Sie sprechen damit – ganz im Sinne von Polanyi  das Bedürfnis nach sozialer Teilhabe an. Aber anders als Polanyi können sie sich nicht mehr daran erinnern, dass es ein soziales Leben ausserhalb der Marktwirtschaft gibt, oder dass man auch diese sozialverträglich gestalten könnte  - wenn da nicht die Angst vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit wäre.
 
Inzwischen haben die Gelben Westen schon mal improvisiert: Mit ihren Strassensperre, den Lagerfeuern und Suppentöpfen haben sie ausgerechnet die anonymen Landstrassen zu Orten der Begegnung gemacht. Endlich wieder mal ein Gemeinschaftserlebnis. Das ist zwar auch keine Lösung aber immerhin schon mal ein Symbol.
 
 
 

 

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