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07.05.2019 – Die Schweiz - von einem kaputten Wirtschaftsraum umzingelt


 
Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen wirft bei allen wichtigen Details auch diese Grundsatzfragen auf: Wie kaputt muss ein Arbeitsmarkt sein, damit aus hunderten Kilometern herangekarrte, entsandte Arbeit billiger ist als lokales Schaffen? Und wie geht die Schweiz damit um, dass wir von einem kaputten Wirtschaftsraum umzingelt sind?

 
 
mein Thema für heute ist der Europäische Arbeitsmarkt, das Rahmenabkommen und namentlich das Protokoll 1 über die  Zitat „ „Berücksichtigung der Besonderheiten des Schweizer Arbeitsmarktes. Und das imZusammenhang mit dem - Zitat - „Ziel, ihren Staatsangehörigen sowie Marktteilnehmern gerechte Bedingungen für die freie Erbringung von Dienstleistungen während bis zu 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr (inkl. Entsendung von Arbeitnehmern) zu gewährleisten und gleichzeitig vollumfänglich die Arbeitnehmerrechte zu garantieren.“ Zitat Ende.
 Was sind nun die Besonderheit des Schweizer Arbeitsrechts in Bezug auf die Entsendung? Nun, bei der Entsendung handelt es sich um eine Variante eines alten Problems des Arbeitsrechts. Es geht um das Dreiecksverhältnis von Wohn- Arbeits-und Einsatzort. Im Normalfall kombiniert der Arbeitnehmern Wohn- und Arbeitsort so, dass er Leben und Arbeiten in Einklang bringen kann. Entsprechend ist der Arbeitsort ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsvertrages. Eine Änderung des Arbeitsortes stellt eine Änderungskündigung des dar, bzw. darf nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist umgesetzt werden.
 
Bei einer vorübergehenden Versetzung spricht man von einer Veränderung des „Einsatzort“.  Sie muss vertraglich vorgesehen sein, wobei sich die Frage der Zumutbarkeit (gemessen an der Vereinbarkeit mit dem Privateben) stellt. Diese wiederum ist abhängig von der Dauer des Einsatzes und von der Entfernung des Einsatz- vom Arbeitsort. Zudem muss der Arbeitgeber alle allfälligen Spesen für Unterkunft, Transport und auswärtige Verpflegung zahlen und die zusätzlichen Wegzeiten gelten als Arbeitszeit.
 
Damit haben wir also die „gerechte Bedingungen“ umrissen,  die der Entsender nach Schweizer Recht gewährleisten muss, damit er seinen Angestellten („Markteilnehmer“)die – Zitat –  „ freie Erbringung von Dienstleistungen während bis zu 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr“ zumuten darf.  Gerecht und fair wäre auch, wenn man die Betroffenen mindestens acht Tage Zeit gibt, im Hinblick auf die  neue Entsendung die familiären Angelegenheiten zu regeln, Arzttermine zu verschieben etc.
 
Wie man leicht nachvollziehen kann,  müsste also eine faire Versendung, zumal eine grenzüberschreitende, eine sehr teure Angelegenheit sein. Entsprechend wäre zu vermuten, dass sich entsandte Arbeit nur in sehr seltenen Ausnahmefällen lohnt – etwa wenn man Journalisten auf Reportage schickt oder wenn ein Ingenieur eine im Ausland installierte Maschine reparieren muss. Kurz: Lokale Arbeit müsste fast immer viel konkurrenzfähiger sein als entsandte Arbeit.
 
Warum also ist entsandte Arbeit dennoch plötzlich ein Megathema? Was ist da schief gelaufen? Auch ohne die Details der Rechtslage zu kennen, kann man davon ausgehen, dass dies nur möglich ist, weil die Entsende-Firmen praktisch alle oben erwähnten Kosten der Entsendung auf die Arbeitnehmer abwälzen können und weil sich auch die Frage zur Zumutbarkeit für sie nicht stellt. Oder anders formuliert: Entsandte Arbeit floriert, weil der EU-Binnenmarkt bisher selbstverständliche Recht der Arbeitnehmer ausser  Kraft gesetzt hat.
Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen Blick zurück werfen. Die alten Regeln der nationalen Arbeitsmärkte sind das Ergebnis eines Jahrhunderte langen Kampfes zwischen den Sozialpartnern. Sie sind deshalb in allen entwickelten Ländern in etwa gleich, weil Wachstum und breit verteilter Wohlstand einen Arbeitsmarkt voraussetzt, auf dem Arbeitnehmer und –Geber in etwa gleich lange Spiesse haben.
Die nationalen Arbeitsmarktregeln stammen noch aus jener Zeit, also vor allem aus den „goldenen 30 Nachkriegsjahren“. Die Epoche war  geprägt von einem hohen Wachstum der Produktivität, einer mindestens so hohen Zunahme der realen Stundenlöhne und einer Zunahme der Freizeit, die auch nötig war, um eine entsprechende Zunahme des Konsums zu ermöglichen. Bei uns ging die effektive Arbeitszeit von 1950 bis 1984 um 6, in Deutschland gar um 15 Stunden Wochenstunden zurück. Diese Entwicklung wurde begleitet und ermöglicht durch eine entsprechende Verkürzung der vertraglichen und gesetzlichen Normalarbeitszeit.
Seither hat sich in dieser Beziehung nichts mehr getan, obwohl sich die Produktivität noch einmal fast verdoppelt hat (plus 80% in Deutschland). Die Arbeit wurde zum knappen Gut. Statt um neue Produkte ging es darum, neue Jobs zu schaffen und dieses Ziel versuchte man mit einer Flexibilisierung und Verbilligung der Arbeit zu erreichen. Die Folge dieser Entwicklung ist ein völlig neuer Arbeitsmarkt, der – schematisch dargestellt – in etwa so aussieht.
*die reichsten 10% der Arbeitnehmer kassieren so viel, dass sie überall fürstlich leben können.
*die reichsten 30% bestreiten rund 80% des grenzüberschreitenden Privatkonsums.
* das ärmste Drittel muss froh sein, überhaupt irgendwo irgendeiner (notfalls entsandten) Arbeit nachgehen zu dürfen.
 
*die einstigen Wirtschafts-und Lebensräume sind zu Produktionsstandorten  verkommen, die gegeneinander um die Kaufkraft der mobilen Oberschicht kämpfen.
 
Mir der Entsenderichtlinie hat die EU den Standortwettbewerb und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auf seine geradezu karikaturale Spitze getrieben. Erstens weil sie zugelassen hat, dass die Regeln des Arbeitsmarktes nicht mehr wie bisher in einer Auseinandersetzung mit gleich langen Spiessen von der Sozialpartnern ausgehandelt, sondern dem freien Markt und der Bürokratie überlassen hat. Zweitens weil sie mit der Abschaffung der Überprüfung auf Zumutbarkeit einen klaren Trennungsstrich zwischen Arbeit und Leben gezogen und damit die Menschen auf ihre Funktion als Arbeitskräfte reduziert und sie damit entmenschlicht hat.
 
Für die Schweiz stellt sich damit die Frage, wie wir  damit umgehen sollen, dass wir von einem Wirtschaftsraum umzingelt sind, der das Lohndumping zum System erhoben hat, der Arbeit Vorrang vor dem Leben gibt  und voll auf den Standortwettbewerb setzt. Bisher sind wir halbwegs glimpflich damit davon gekommen, dass wir die Frage so beantwortet haben:  Ja, wir nehmen de Standortwettbewerb an, aber wir betreiben ihn mit anderen Mitteln, nämlich denen der Währungsmanipulation und vor allem des Steuerwettbewerbs und damit des Fiskalraubes.
 
Mit der Steuervorlage 17 setzen wir diese Politik fort. Wir senken unsere Gewinnsteuern per Saldo um rund 2 Milliarden Franken und hoffen, auf diese Weise uns als Standort attraktiver zu machen. Doch selbst die von Finanzdepartment zur Rechtfertigung veröffentlichten Zahlen zeigen – bei kritischer Betrachtung – dass diese Rechnung nicht aufgehen kann. Sie implizieren, dass rund 40'000 Arbeitskräfte (oder etwa 100'000 Menschen) neu zuwandern und rechnen die von diesen Zuwanderern zu entrichteten 940 Millionen Sozialbeiträge und 1,2 Milliarden Einkommens- und Mehrwertsteuern gegen die Senkung der Unternehmenssteuer auf. So als gehörten die Sozialbeiträge nicht den Versicherten und so als ob die Zuwanderung nicht zusätzliche Staatsausgaben auslösen würde. Vielleicht beteiligen wir uns nächste Woche schon wieder an einer Abstimmung, die das Bundesgericht nachträglich als ungültig erklären muss.
 
Zudem: Tiefere Steuereinahmen bedeuten tendenziell weniger Staatsausgaben  - für Gesundheit, Bildung, Administration und Umweltschutz. Doch genau dies sind die Sektoren, die in den vergangenen Jahrzehnten per Saldo Jobs geschaffen haben. In den klassischen Exportindustrien haben wir hingegen Jobs verloren. Was nicht verwundert, denn in der Industrie oder auch bei den Finanzdienstleistungen ist das Rationalisierungspotential besonders hoch.
 
Und wenn wir einen Blick auf die uns umzingelnden Standortwettbewerber werfen, wird das Verdikt erst recht klar. Wer einen Niedriglohnsektor schafft, vernichtete Kaufkraft und damit Jobs und Lebensqualität. Rund ein Viertel der deutschen Arbeitsbevölkerung lebt am Rande oder unter dem Existenzminimum. Die Lebenserwartung dieser Unterschicht liegt etwa 8 Jahre unter der des reichsten Viertels. Und dabei reden wir hier vom wirtschaftspolitischen Musterland der EU, von einem Sieger im Standortwettbewerb.
 
Es ist übrigens nicht so, dass man nicht auch in der EU allmählich realisiert, dass der bedingungslose Standortwettbewerb ein Holzweg ist und dass man vielleicht besser auf einheimische Nachfrage setzen sollte. Dass die Erkenntnis reift und der Widerstand zunimmt, zeigt sich übrigens gerade auch am Beispiel der Entsenderichtlinie. Diese ist inzwischen schon zwei mal korrigiert worden. Erstens müssen die Entsender den am Ort des Einsatzes üblichen Löhne bezahlen. Tieflohnländer können also den „Standortvorteil“ ihrer Hungerlöhne nicht mehr einsetzen.
Vor einen Jahr hat das EU-Parlament sogar einer neuen Entsenderichtlinie zugestimmt, wonach „Entsandte Arbeitnehmer, (....) mindestens dieselben (....) Zulagen oder Kostenerstattungen zur Deckung der Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten erhalten wie gebietsansässige Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat.“ Darüber hinaus sollten die  „zuständigen nationalen Behörden überprüfen, ob die Wohnverhältnisse in den Unterkünften(...) mit den geltenden einschlägigen nationalen Bestimmungen des Aufnahmemitgliedstaats (...) im Einklang stehen.“ Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein wichtiger Schritt – die Frage der Zumutbarkeit muss gestellt werden. Denn selbst wenn die Entsandten in anständigen Hotels untergebracht, wenn alle Spesen bezahlt und die Reisezeit wie Arbeit entlohnt wird, müssten die Entsandten Arbeitnehmer doch auf ihre Familie, Nachbarn und Bekannten verzichten. Sie leben nur, um zu arbeiten.
Doch auch ohne Prüfung der Zumutbarkeit gilt, dass entsandte Arbeit nach der neuen Verordnung in aller Regel wesentlich teurer und daher nicht konkurrenzfähig wäre – wenn man diese Regeln durchsetzen könnte. Wenn man also wie es im Rahmenabkommen heisst, wirklich „gerechte Bedingungen für die freie Erbringung gewährleisten“ wollte. Doch offensichtlich meint die EU mit diesem Bürokratenjargon etwas ganz anderes, nämlich das Recht der EU-Firmen ihre Angestellten weiterhin zu Dumpingpreisen in das Hochlohnland Schweiz entsenden zu können. Das erklärt auch den anhaltenden Widerstand gegen die Kontrollen. Noch steht der Richtungskampf innerhalb der EU auf der Kippe.
Um so wichtiger ist es, dass die Schweiz mit ihrem Festhalten an einem griffigen Lohnschutz diesen Widerstand stärkt. Wir riskieren damit wenig, denn wir haben bisher die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit überschätzt und das Potential einer Politik unterschätzt, die  konsequent auf die Binnennachfrage und auf die eigene Lebensqualität ausgerichtet ist. Vielleicht können wir damit im Europa sogar eine Vorreiter-Rolle spielen.
 


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